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Der in der amerikanischen Revolution formulierte Katalog konstitutioneller Ordnungsprinzipien wurde schon im Verlauf des „westlichen“ Konstitutionalisierungsprozesses jeweils unterschiedlichen historisch-politischen Formensprachen unterworfen, woraus durch Verschmelzung von Eigenem und Fremdem eine Vielfalt der Verfassungskulturen resultierte. Letztlich ein dynamischer Prozess der Übernahme, Umformung, Anpassung und Umdeutung konstitutioneller Paradigmata. 557 Diese verschmolzenen, hybriden Formen des institutionellen Mimetismus erwiesen sich durchaus als exemplarisch für Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas. 558 Im Iran, in Japan und der Türkei bedienten sich unterschiedliche Reformbewegungen aus dem Fundus des westlichen Konstitutionalismus, um indigene politische Ausprägungen der gesellschaftlichen Existenz zu entwickeln. Die Rezeption des Konstitutionalismus in den „nicht-westlichen“ Zivilisationen resultierte im Wesentlichen jedoch nicht in einer Modernisierung durch Verwestlichung, sondern in einer Entfaltung pluraler Formen der Modernität, in denen die jeweiligen eigenen historischen Traditionen oftmals in der Begegnung mit westlichen konstitutionellen Formen eine indigenisierte konstitutionelle Politik generierten, die in den Strukturen analog, aber nicht identisch zu bzw. mit dem westlichen Modell sind.

Die Rezeption des Konstitutionalismus in den nicht-westlichen Zivilisationen seit Ende des 19. Jahrhunderts ist ein Modernisierungsphänomen, doch Modernisierung bedeutet weder Verwestlichung noch globale Homologisierung der politischen Welt, sondern die Entfaltung pluraler Formen der Modernität, in denen die jeweils eigenen geschichtlichen Traditionen in der Begegnung mit den westlichen Konstitutionalismen eine indigenisierte konstitutionelle Politik mehr oder weniger ausgeprägt generierten, die strukturanalog aber nicht strukturidentisch mit dem westlichen Modell ist. Der konstitutionelle Mimetismus in den entkolonisierten neuen Staaten stand in der Regel unter dem Einfluß des Vorbildes des jeweiligen Kolonialherrn. Interessanter für eine Morphologie des Konstitutionalismus sind die nicht-kolonialen ostasiatischen und islamischen Gesellschaften. In Japan, der Türkei und Persien bedienten sich Reformbewegungen aus dem Fundus der westlichen Konstitutionalismen, denn dieser galt - neben Wissenschaft und Technik - als ein entscheidender Grund für die existenzbedrohende Überlegenheit der westlichen Mächte.

Übernommen aus
Jürgen Gebhardt,
"Verfassung und Symbolizität"
In: Melville, Gert (Hrsg.) Institutionalität und Symbolisierung: Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln: Böhlau, 2001, S. 585-602.
Link: http://books.google.de/books?id=vYt2UWOWsoIC&pg=PA594#v=onepage&q&f=false

Fußnote 557 der Dissertation verweist auf einen französischen Aufsatz von Y. Mény zum "konstitutionellen Mimetismus". Der Aufsatz von Jürgen Gebhardt, der hier paraphrasiert und stellenweise zitiert wird, wird nicht belegt. Er taucht auch nicht im Literaturverzeichnis auf, in dem mehrere andere Arbeiten von Gebhardt angegeben sind. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Paraphrasen und Zitate hier aus einer anderen Arbeit Gebhardts stammen.