Komik: zwei Welten treffen aufeinander[]
In einem Satz zusammengefasst, empfinden wir Komik in Plessners (1970) Worten dann, wenn unser Erwartungshorizont von der Ambivalenz betroffen ist. Es entsteht also eine spezifische Spannung zwischen den Ereignissen, die wir als mögliche für uns antizipiert haben, und dem Ereignis, das eingetreten ist. Letzteres muss ein Stück weit abwegig sein, oder wie Berger (1998) in Anlehnung an Schütz formuliert: es muss eine gewisse Realitätsferne gegeben sein. Dieses realitätsferne und doch realisierte Ereignis muss allerdings – denn das macht die Ambivalenz aus – in einem spezifischen Bezug zum Erwartbaren, sprich: zu unserer dominanten Realität, stehen. Berger spricht daher davon, dass uns das Komische eine "sonst verschlossene Dimension" unserer erlebten alltäglichen Realität wahrnehmbar macht (Berger 1998: 17).
Wenn hier von einer dominanten bzw. alltäglichen Realität oder Wirklichkeit die Rede ist, so setzt das voraus, dass es weitere Wirklichkeiten gibt, die nicht weniger wirklich. Schütz bezeichnet diese verschiedenen Wirklichkeiten als „geschlossene Sinnbereichen“ (Schütz zit. nach Berger 1998: 8) es sind jeweils eigenständige Domänen, die situativ unseren gesamten Wahrnehmungshorizont darstellen, die ihre je eigenen und dann absolut gültigen Regeln und Logiken aufweisen. So erleben wir dies beispielsweise in Träumen: Im Traum können Tote wieder lebendig sein, man kann vielleicht fliegen, Gesichter, Personen, Identitäten können fließende Übergänge aufweisen, Zeit und Raum unterliegen ihren eigenen Gesetzen, oder vielmehr: denen der Wirklichkeit des Traumes. Auch das Komische ist ein solcher geschlossener Sinnbereich. Dann, wenn uns das Lachen ergreift, wenn der Körper reagiert, sich mit Lachen schüttelt, in dem Moment, in dem uns Reaktionsmöglichkeit fehlt, er also durch das Lachen Kontrolle über die Situation und uns übernimmt (vgl. Plessner 1970), dann springen wir, wie Berger in Anlehnung an Kierkegaard formuliert, in eine andere Wirklichkeit – eine "Nebenwelt" (James zit. nach Berger 1998: 8) zu unserer dominanten Wirklichkeit, wiederum eine Welt mit eigenen Regeln und Logiken.
Unser (aller) Wirklichkeiten[]
Für eine kurze Betrachtung dessen, was satirische Aufbereitungen über Guttenbergs Plagiatsaffäre sagen, möchte ich an dieser Stelle drei Wirklichkeiten begrifflich trennen: Die dominante Wirklichkeit soll diejenige subjektive Wirklichkeit sein, in der das Individuum sich beheimatet fühlt. Es ist diese eigene Wirklichkeit, deren Besonderheit wir z.B. dann spüren, wenn man im Streit das Gefühl hat, der/die andere hat eine ‚verschobene‘ Wahrnehmung des Streitgegenstandes. Sie ist nur analytisch zu trennen von der zweiten Wirklichkeit, die ich hier begrifflich isolieren will: der geteilten Wirklichkeit. Letztere hat immer auch Anteil an der Formung unserer dominanten Wirklichkeit und sie kann nur durch die Integration in die subjektive Wirklichkeit vom Individuum wahrgenommen werden. Die analytische Trennung ist jedoch berechtigt, weil wir hier den Kern der geteilten Wirklichkeit durch intersubjektive Betrachtungen herausschälen können, die wir dann im Alltag als ‚objektive‘ Wirklichkeit bewerten (vgl. hierzu das interpretative Paradigma der Chicago School). Um die normative Aufladung der Differenzierung subjektiver und objektiver Wirklichkeit zu umgehen und nicht in die Falle zu tappen, objektive Wirklichkeit unabhängig von unserer Wahrnehmung, also als letzte, metaphysische, von allem menschlichen Zutun entledigte Wahrheit zu verstehen, unterscheide ich die dominante Wirklichkeit, als je individuelle und die geteilte Wirklichkeit als soziale. Die dritte Wirklichkeit, die hier eine Rolle spielt, ist die Nebenwelt des Scherzes bzw. des Komischen. Das Verhältnis dieser zu den beiden anderen, ist nun das, worum es hier gehen soll.
Kränkung und Heilung: die Satire[]
Kurt Tucholsky erklärt, der Satiriker sei „ein gekränkter Idealist“. Nehmen wir diese Definition zum Ausgangspunkt (und sie scheint mir für gute KabarettistInnen durchaus zutreffend), dann können wir die dominante Wirklichkeit von KabarettistInnen zunächst über ihre Idealvorstellungen von der erlebten Wirklichkeit unterscheiden. In diese dominante Wirklichkeit bricht nun die erlebte Wirklichkeit ein: Sie konfrontiert das Ideal mit einem dem Ideal widerstrebenden realisierten Ereignis. Das ist durchaus eine Ambivalenz. Das sie aber nicht selbst als komisch, sondern als Kränkung empfunden wird, liegt daran, weil ihr die Realitätsferne fehlt. Dies können wir wiederum mit Berger an Witzen nachvollziehen, denn auch der Witz, der „zu weit gegangen ist“, der also eine Kränkung darstellt, hat eine „empfindliche Realität berührt“ (Berger 1998: 8). Empfindlich ist die Realität des Ideals deswegen, weil sie um ihre Brüchigkeit weiß: Dem Ideal ist es eigenen, das seine Wirklichkeit nicht nur stets fragil ist, sondern auch, dass das Individuum die ideale Wirklichkeit in ihrer Gültigkeit der geteilten Wirklichkeit untergeordnet sieht. Ein plattes Beispiel: das Ideal des Weltfriedens ist nicht als Ideal, aber als Wirklichkeit infrage gestellt, sobald ein Krieg im Horizont der geteilten Wirklichkeit stattfindet. Damit haben wir eine eindeutige Hierarchie, die keine ambivalente Spannung mehr hat: die geteilte Wirklichkeit wird als dominante Wirklichkeit erlebt, das Ideal nur noch als Nebenwelt empfunden – als Wunschtraum und Utopie.
Die Satire dreht dieses Verhältnis nun ein Stück weit um, nur gerade soweit, dass die ambivalente Spannung entsteht. Sie emanzipiert die Wirklichkeit des Ideals gegenüber der geteilt erlebten und macht sie ein Stück weit zu einer neuen geteilten Wirklichkeit – gerade in der Kabarettaufführung (z.B. Volker Pispers am 27.02.2011) – indem sie das Publikum auf ihre Seite zieht, also ein gemeinsames Verständnis herstellt. Satire überzeichnet ein geteilt erlebtes, wirkliches Ereignis, womit sie dasjenige Element, das dem Ideal widerstrebt, vom Rest der geteilten Wirklichkeit isoliert - letztere so von dem Ereignis 'heilt'. Sie vollzieht dabei gleichzeitig noch einen weiteren Schritt: Die Isolation vermittelt nun den Eindruck, dass das Gegenteil des Ereignisses das ‚Normale‘ ist. Die Satire stellt also zugleich eine andere Normalität her, in die das Ereignis nicht mehr passt, in der es realitätsfern erscheint. Diese Normalität kennzeichnet nun die so hergestellte geteilte Wirklichkeit. Sie entspringt jedoch nicht der ursprünglich geteilten Wirklichkeit, sondern der idealen Wirklichkeit der KabarettistInnen. Im Effekt erscheint damit dem Publikum das ‚kränkende‘ Ereignis als Nebenwelt – eben als Nebenwelt des Komischen, das nun in einer Ambivalenz zur geteilten Wirklichkeit steht. Ambivalenz besteht damit aber auch in dem Ereignis selbst: Es ist schließlich auch eine Spannung zwischen der geteilten Realität, in der das Ereignis stattfand, und der Nebenwelt, in die das Ereignis nun abgelagert wird.
Verschlossenes erschließen – Erschlossenes verschließen[]
An dieser Stelle nun erscheint es eher seltsam, davon zu sprechen, dass uns das Komische eine ansonsten verschlossene Dimension der Wirklichkeit öffnet, denn es ist ja ein gänzlich offenes, nämlich ein im geteilten Erleben realisiertes Ereignis, das nun komisch wird. Dennoch ‚fühlen‘ wir, dass uns die Satire bzw. das Kabarett hier ‚die Augen öffnet‘, es scheint uns sehend zu machen für etwas an dem Ereignis, das uns nicht bewusst war. Im ersten Verständnis ist es das Komische an sich: also dass dieses Ereignis (als) komisch (gesehen) werden kann. Überträgt man nun wieder den obigen Gedanken, dass das Komische in einer Ambivalenz bestehe, dann ist es also die Ambivalenz des Ereignisses, die uns ‚neu‘, aber eben nun ‚real‘ erscheint – eben eine zuvor verschlossene Dimension unserer ‚objektiven‘ Wirklichkeit. Im dritten Schritt können wir sagen, da die Ambivalenz im Ereignis liegt, ist es das Ereignis selbst, das uns nun eröffnet erscheint als zuvor verschlossene Dimension. Der Prozess kehrt sich im Lachen also um: das Ereignis wird zum abgeschlossenen Sinnbereich, wir werden von ihm befremdet. Der oben skizzierte Prozess ist damit vollendet: nicht nur das Ereignis ist isoliert aus der geteilten Wirklichkeit der Lachenden, sondern auch die Wirklichkeit, die dieses Ereignis hat stattfinden lassen, also in unserem Fall: die Wirklichkeit Guttenbergs.
Erschütterung von Wirklichkeiten[]
Damit schließt sich für uns noch ein weiterer Kreis: Die humoristische Sichtweise, die die Plagiatsaffäre von Anfang an begleitet hat, reguliert die ernsthafte Sichtweise: Ihre bloße Existenz, also die bloße Möglichkeit es komisch zu empfinden, nimmt der Affäre die Selbstverständlichkeit sich in unserer Wirklichkeit abzuspielen. Thematisierungen, die die Plagiatsaffäre als normales, vielleicht ungewöhnliches oder seltenes, aber durch und durch unserer Realität zugehöriges Ereignis darstellen wollen, wie dies vorrangig von Merkel über die Bildzeitung bis hin zu den Guttenberg-Fans, aber durchaus auch für die Universität Bayreuth am Tag des Entzugs des Doktorgrades galt, müssen dies gezielt herstellen, sie können gerade nicht auf eine Selbstverständlichkeit zurück greifen. Normalität gezielt herzustellen, funktioniert aber nur bedingt, denn es ist kennzeichnend für Normalität, dass sie 'einfach' ablaufen muss, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Da ist ihr die Komik stets überlegen: Sie kann im Lachen eine Wirklichkeit als unnormal entlarven und damit eine unausgesprochene Normalität nebenbei und unbemerkt herstellen. Auf diese Weise läuft sie dann tatsächlich nebenher, während wir uns noch vor Lachen schütteln.
Die von Merkel vollzogene Teilung der Qualifikationen und Tätigkeiten Guttenbergs, die ganz normal sein könnte, kann es so nicht. Sie wird im Lachen zu einer ‚Unmöglichkeit‘ durch die Überzeichnung als Teilung des InDividuums (= Ungeteilten). Das Verlesen des Guttenbergschen Vorworts auf YouTube mit romantischer Musik und malerischen Landschaften im Hintergrund fordert dazu auf, die Normalität dieses Vorworts infrage zu stellen – und schon mit dieser Aufforderung geschieht das Infragestellen, der Entzug selbstverständlicher Normalität. Erst vor diesem Hintergrund, also vor dem Hintergrund des durch die Komik vollzogenen und legitimierten Entzugs von Selbstverständlichkeit ist es auch legitim, Guttenberg ernsthaft Realtiätsverlust zu bescheinigen: so z.B.die Bundestagsopposition laut Spiegel Online (22.02.2011), der Jurist Oliver Lepsius gegenüber der Süddeutschen Zeitung (26.02.2011) oder der Historiker Michael Philipp ebenfalls im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (02.03.2011).
Nicht also die Empörung in der Wissenschaft, auch nicht die Arbeit GuttenPlags oder die ausführliche Berichterstattung der Medien waren die entscheidenden Impulse, derentwegen sich Guttenberg nicht mehr im Amt und immer weniger in der Beliebtheit von ‚PolitikerRankings‘ halten konnte, sie lieferten allerdings Aufmerksamkeit und eine Möglichkeit für eine geteilte Wirklichkeit, die für das entscheidende Moment eine gute Grundlage war: dem Lachen.
Berger, Peter L. (1998): Erlösendes Lachen: das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin: De Gruyter.
Plessner, Helmuth (1970): Philosophische Anthropologie: Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne. Frankfurt/Main: Fischer Verlag.
Kurt Tucholsky (1919): Was darf die Satire? In: Berliner Tageblatt, Nr. 36 vom 27. Januar 1919 .