Quelle: FAZ, Dezember 2000[]
Eine Verfassung für die Europäische Föderation.[]
Von Katharina Holzinger und Christoph Knill[]
Joschka Fischers Europa-Rede war allein deshalb begrüßenswert, weil seit langem wieder ein Politiker gewagt hat, öffentlich darüber nachzudenken, wie der Endzustand eines geeinten Europa aussehen könnte. Es ist nur zu wünschen, daß dieser Vorstoß eine europäische Debatte über die Ausgestaltung der Zukunft der Union in Gang bringt. Wenn man wie Fischer die Voraussetzung akzeptiert, daß die Erweiterung der Union nach Osten und Südosten politisch unabdingbar ist, ist eine Anpassung der Institutionen und des Integrationskonzepts an die neuen Gegebenheiten die notwendige Folge. Die Prinzipien und Maximen, die Fischer seinem Modell zu Grunde legt, finden sicherlich breite Zustimmung. Ziel einer Reform und Weiterentwicklung der europäischen Institutionen muß es sein, Europa auch dann handlungsfähig zu halten, wenn die Union 25 oder 30 Mitgliedstaaten umfaßt. In einer Föderation von Nationalstaaten muß Subsidiarität das oberste Prinzip sein für die Souveränitätsteilung, die vertikale Kompetenzverteilung zwischen den Nationalstaaten und der Ebene der europäischen Föderation. Und schließlich erscheint es bei der gegebenen ökonomischen und kulturellen Vielfalt der zukünftigen Mitglieder sinnvoll, Möglichkeiten einer differenzierten Integration ins Auge zu fassen, also zuzulassen, daß in manchen Bereichen nur ein Teil der Mitglieder eine gemeinschaftliche Politik betreibt. Andere Staaten beteiligen sich dann nicht, so wie das heute schon bei der Wirtschafts- und Währungsunion der Fall ist.
Allerdings belassen diese Grundprinzipien viel Spielraum für die konkrete Ausgestaltung der Institutionen. Fischers Vorschläge für das Institutionensystem sind sehr offen gehalten und sie bieten keine Lösungen für eine Reihe drängender Probleme der Union, die bei der nächsten Regierungskonferenz angegangen werden müssen. So bleibt etwa der Bestellungsmodus für eine „Europäische Regierung“, ob fortentwickelte Kommission oder Minister aus den Nationalstaaten ebenso offen wie der Entscheidungsmodus in einem erweiterten Ministerrat oder einer föderativen Kammer. Beide Probleme müssen aber bereits heute gelöst werden, um die Handlungsfähigkeit der Union für die nächste Erweiterungsrunde zu gewährleisten. Darauf hat auch der französische Außenminister Hubert Védrine bereits hingewiesen. Außerdem impliziert das Modell Fischers eine Abkehr von der bisherigen Logik des politischen Systems der EU und ein teilweises Zurückdrehen des bisher Erreichten. Fischers Vorstellung erinnert in einzelnen Elementen, wie dem direkt gewählten Präsidenten oder einer zweiten Kammer nach dem Senatsprinzip, an ein präsidentielles System nach amerikanischen Vorbild. Bisher folgt das Institutionensystem der EU allerdings eher dem Muster der parlamentarischen Demokratie – ebenso wie die meisten Verfassungen in Europa. Ein parlamentarisch-demokratisches System hätte deshalb den Vorzug, den europäischen Bürgern vertrauter zu sein. Fischers Vorschlag bedeutet einen Bruch mit der institutionellen Tradition in der EU.
Entdemokratisierung und Renationalisierung[]
Im Vergleich zur jetzigen Union implizieren die Vorstellungen von Fischer zur Europäischen Föderation sowohl Entdemokratisierung als auch Renationalisierung. Das derzeit direkt gewählte europäische Parlament würde durch eine Kammer ersetzt, die aus Delegierten der nationalen Parlamente besteht. Wer die Arbeitsbelastung der Europaabgeordneten kennt, weiß, daß eine solche Lösung, die dem nationalen Parlamentarier zusätzlich die beträchtliche europäische Rechtsetzungsarbeit aufbürdet, schlicht impraktikabel wäre. Vor allem aber würde durch diese indirekte Repräsentation die europäische Politik einen erheblichen Legitimationsverlust erleiden. Neben der Friedenssicherung war ein Hauptmotiv vergangener und zukünftiger Erweiterungen der Union stets die weitere Demokratisierung in Europa. Es wäre schon bedenklich, wenn man dann ausgerechnet auf der obersten europäischen Gesetzgebungsebene darauf verzichten wollte.
Fischers Modell verschafft den Nationalstaaten, insbesondere deren Regierungen, ein übergroßes Gewicht im Entscheidungssystem: Die „europäische Regierung“ soll aus Ministern der Mitgliedstaaten oder aus wie bisher von dem Mitgliedstaaten bestellten Kommissaren bestehen; die zweite Kammer soll eine Vertretung der Mitgliedsstaaten nach dem Senatsprinzip (gewählte Senatoren) oder Bundesratsprinzip (Regierungsvertreter) sein; die erste Kammer soll aus Mitgliedern der nationalen Parlamente bestehen, die in den in Europa üblichen parlamentarischen Systemen ohnehin mehrheitlich die Regierungsposition vertreten. Bei dem Grad an direkter Rückwirkung auf den Bürger, den Politik und Rechtsetzung der EU inzwischen erreicht haben, scheint ein derart intergouvernementalistisches Modell schon jetzt nicht mehr angemessen.
Weder Staatenbund noch Bundesstaat[]
Es ist überflüssig, zu diskutieren, ob die Europäische Föderation ein „Staatenbund“ oder ein „Bundesstaat“ sein soll. Dies schafft nur unnötige Polarisierung. Die EU war immer, oder ist spätestens seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments mehr als ein Staatenbund. Andererseits wird in Europa mit seinen gewachsenen Nationalstaaten mit eigener Geschichte, Kultur und Sprache wohl nie ein echter Bundesstaat entstehen können, auch wenn dies die Vision früherer Europapolitiker gewesen sein mag. Insofern war die EU stets eine politische und rechtliche Ordnung „sui generis“ und wird es auch bleiben. Für die Machtverteilung zwischen den Nationalstaaten und der europäischen Ebene ausschlaggebend ist sowohl die vertikale Kompetenzverteilung als auch die Ausgestaltung der Institutionen der Föderation. Eine zukünftige europäische Verfassung muß also zwei Probleme lösen: Sie muß erstens das Problem der vertikalen Kompetenzverteilung und der Integration heterogener Nationalstaaten bewältigen und sie muß zweitens ein dauerhaft funktionsfähiges Institutionensystem auf der europäischen Rechtsetzungsebene schaffen.
Souveränitätsteilung zwischen Mitgliedern und Föderation[]
Für die Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaten und Föderation ist das Subsidiaritätsprinzip sicherlich das richtige Leitbild. Nur solche Aufgaben, die wirklich eine Lösung auf der Ebene der Föderation erfordern, sollten ihrer Kompetenz unterstehen. Die Zuweisung von Kompetenzen an die europäische Ebene sollte primär dann erfolgen, wenn die zu lösenden Probleme globalen, europaweiten oder grenzüberschreitenden Charakter haben, wie häufig in der Handels- oder Umweltpolitik, oder dann, wenn eine gemeinsame Politik erhebliche politische Vorteile nach innen und außen bringt, wie etwa bei der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen sollte in einem so heterogenen Gebilde dagegen nicht zur Begründung von Politik auf der übergeordneten Ebene dienen. Die Betonung des Subsidiaritätsprinzips darf jedoch nicht zu Illusionen verleiten: Im Zeitalter globaler Märkte, globaler Transport- und Kommunikationssysteme, globaler Umweltprobleme und neuer politischer Blockbildung ist damit zu rechnen, daß der größte Teil aller notwendigen politischen und rechtlichen Maßnahmen den genannten Bedingungen genügt und deshalb auf der europäischen Ebene angesiedelt werden muß. Gerade diese Erkenntnis macht es nötig, handlungsfähige und demokratisch voll legitimierte Institutionen auf der Ebene der Föderation zu schaffen. Wünschenswert wäre allerdings, daß in einem Föderationsvertrag die Kompetenzverteilung systematischer als bisher geregelt wird. Dabei wäre auch zu prüfen, ob nicht die eine oder andere bisher im ad hoc-Verfahren auf der EU-Ebene angesiedelte Kompetenz wieder zurückgeführt werden kann, etwa im Bereich der Strukturfonds oder der Regionalpolitik.
Flexible Integration statt Kerneuropa[]
Da die wachsende Heterogenität der Mitgliedstaaten die gemeinschaftliche Politikgestaltung weiter erschweren wird, wird es notwendig werden, Formen der differenzierten Integration zuzulassen. Fischers Vorstellungen zielen hier auf ein Kerneuropa oder ein Europa der Avantgarde, also eine feste Gruppe von Staaten, die enger zusammenarbeiten und eine vertiefte Integration anstreben. Ein Nachteil dieses Konzepts ist, daß es eine Zwei-Klassen-Föderation schafft. Hubert Védrine hat auf weitere Probleme schon verwiesen: Wie wären die Mitglieder des Kerns auszuwählen? Was bleibt von der Lösung des Kerneuropa, wenn –wie Fischer betont- der Zugang zum Kern offen bleiben muß und alle Mitgliedstaaten dem Kern angehören wollen? Politisch weniger brisant wäre eine Lösung, die die flexible und funktionale Kooperation verschiedener territorialer Einheiten erlaubt. Bezogen auf eine Politik oder eine Aufgabe könnten sich je verschiedene Gruppen von Mitgliedstaaten zu einem Regulierungsraum zusammenschließen. Die Ausdehnung dieses Raums ergäbe sich aufgrund des zu lösenden Problems (so könnten z.B. die Alpenstaaten Tourismusprobleme oder die Rheinanrainer Wasserqualitätsprobleme gemeinsam lösen) oder aufgrund politischen Willens (wie bei der Währungsunion). Solche Kooperationen sollten auch für subnationale Einheiten, wie die deutschen Länder oder kommunale Körperschaften ermöglicht werden. Ein Vorbild könnten hier die amerikanischen special districts sein, Zweckverbände kommunaler Körperschaften zur Lösung bestimmter Aufgaben, die in der Regel Steuerhoheit haben und deren Spitzenbeamte oft direkt gewählt werden. Die Einrichtung solcher mitgliedstaatlicher oder grenzüberschreitender Kooperationen subnationaler Körperschaften müßte im Föderationsvertrag geregelt werden. Grundlage könnte die im Amsterdamer Vertrag geschaffene Möglichkeit der „verstärkten Zusammenarbeit“ sein. Eine Ausweitung auf subnationale Einheiten und die Lockerung der Bedingungen für die verstärkte Zusammenarbeit (keine Mindestzahl der Mitglieder, kein Vetorecht einzelner Mitgliedstaaten) könnte solche flexiblen und differenzierten Formen der Integration ermöglichen.
Ein funktionsfähiges Institutionensystem
Um ein dauerhaft funktionsfähiges Institutionensystem auf europäischer Ebene zu gestalten, ist es keineswegs erforderlich, vom bisherigen Pfad der institutionellen Entwicklung abzuweichen. Auch muß europäische Handlungsfähigkeit nicht um den Preis der Entdemokratisierung und Renationalisierung erkauft werden. Nicht die Preisgabe, sondern die kontinuierliche Weiterentwicklung des bereits Erreichten sollte im Zentrum institutioneller Reformen stehen. Dies gilt nicht nur für die Verteilung legislativer Kompetenzen und Entscheidungsverfahren, sondern auch für die Ausgestaltung der europäischen Exekutive.
Die Grundpfeiler für ein europäisches Rechtsetzungssystem, das sowohl demokratische Legitimation und politische Handlungsfähigkeit als auch eine angemessene Souveränitätsteilung zwischen Europa und Nationalstaat gewährleistet, sind im heutigen Institutionengefüge bereits vorhanden. Mit vergleichsweise moderaten Reformen könnte hieraus ein funktionsfähiges Zwei-Kammer-System entwickelt werden, bestehend aus dem direkt gewählten Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat, der sich - wie bisher - aus nationalen Regierungsmitgliedern zusammensetzt. Entgegen den Vorschlägen von Fischer bedarf es weder der Aufgabe alter Errungenschaften (dem direkt gewählten Parlament) noch der Einführung neuer Institutionen (wie dem amerikanischen Senatsprinzip).
Ein Zwei-Kammer-System
Damit ein solches System aus direkt gewählter und föderativer Kammer funktionsfähig ist, muß zunächst die Kompetenzabgrenzung zwischen Rat und Parlament neu überdacht werden. Das heute in Teilen bereits praktizierte Mitentscheidungsverfahren, bei dem Parlament und Rat in gleicher Weise an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, sollte grundsätzlich auf alle Bereiche europäischer Politikgestaltung ausgedehnt werden. Dies bedeutet eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments und damit eine verbesserte demokratische Legitimation europäischer Politik. Ausnahmen von diesem Grundsatz bleiben auf wenige Bereiche beschränkt, die der Entscheidung durch den Rat vorbehalten sind und in denen das Parlament lediglich im Wege des Konsultationsverfahrens zu beteiligen ist. Dies betrifft etwa die Außen- und Sicherheitspolitik, die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit, Entscheidungen über finanzielle Umverteilungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie Änderungen der Vertrags- und Verfassungsgrundlagen der Europäischen Föderation.
Ebenfalls reformbedürftig sind die Regeln für die Wahl und Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Neben einem einheitlichen europäischen Wahlrecht müssen Veränderungen insbesondere auf eine gleichmäßigere Repräsentation der Bevölkerung abzielen und bestehende Ungleichgewichte im Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Abgeordnetenzahl der einzelnen Mitgliedstaaten ausgleichen. Dasselbe gilt für die Stimmgewichtung im Europäischen Rat. Die bisherige Übergewichtung der kleinen Länder mag ihren Sinn gehabt haben, als es darum ging, ein ausgewogenes Kräfteverhältnis herzustellen zwischen wenigen Kleinen und wenigen Großen in einer Union mit sechs, 12 oder vielleicht auch noch 15 Mitgliedern. Sie wird zu unvertretbaren Verzerrungen führen, wenn wir es mit über 20 kleinen und wenigen großen Mitgliedstaaten zu tun haben. Dies dürfte wohl auch die Stoßrichtung des Vorschlages von Gerhard Schröder sein, künftig im Rat nach dem Prinzip der "doppelten Mehrheit" abzustimmen. Beschlüsse können demzufolge nur gefaßt werden, wenn sie von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützt werden und diese Mitgliedstaaten gleichzeitig die Mehrheit der europäischen Bevölkerung repräsentieren.
Die gerechtere Repräsentation nationaler Interessen im Entscheidungsverfahren sichert für sich allein jedoch noch nicht die politische Handlungsfähigkeit der EU. Hierzu bedarf es der Änderung der bestehenden Entscheidungsregeln. Dies gilt insbesondere für die Abstimmungen im Europäischen Rat. Die Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips ist auf Regierungskonferenzen und Verfassungsfragen zu beschränken. Denn die Anwendung der Einstimmigkeitsregel setzt ja die Stimmgewichtung wieder außer Kraft. Abgesehen von diesen Ausnahmebereichen, sind Entscheidungen grundsätzlich mit qualifizierter oder mit einfacher Mehrheit zu treffen, wobei die jeweiligen Anwendungsbereiche noch genauer zu festzulegen wären.
Die Kommission als europäische Regierung
Der Vorschlag Fischers enthält zwei Möglichkeiten für die Bildung einer europäischen Regierung. Entweder soll sie aus der Fortentwicklung des Europäischen Rates entstehen, also aus den nationalen Regierungen heraus gebildet werden, oder man geht, ausgehend von der bestehenden Kommissionsstruktur zur Direktwahl eines Präsidenten mit weitgehend exekutiven Befugnissen über. Beide Optionen haben entscheidende Nachteile. Die erste Option fördert nicht nur die Renationalisierung und Intergouvernementalisierung der Union, indem nationale Regierungen sowohl bei der Vorbereitung, Entscheidung und Verwaltung europäischer Politik eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus ist fraglich, ob und inwieweit nationale Fachminister schon von ihrer Arbeitskapazität her in der Lage wären, neben ihrem jeweiligen nationalen Ressort noch das entsprechende europäische zu regieren. Die zweite Option umgeht diese Probleme, ist jedoch nicht realistisch. Die Direktwahl eines Kommissionspräsidenten setzt ein entwickeltes europäisches Parteiensystem und einen entsprechenden Wettbewerb zwischen europaweit agierenden Parteien voraus. Beides ist derzeit nicht in Sicht. Die gleichen Gründe sprechen auch gegen die Option, den Kommissionspräsidenten aus der Mitte des Europäischen Parlamentes zu bestimmen.
Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, an der bisherigen Praxis der Bestellung und politischen Kontrolle der Kommission festzuhalten, die sowohl Rat als auch Parlament miteinbezieht. Danach werden die Mitglieder der Kommission (einschließlich dem Kommissionspräsidenten) weiterhin durch den Europäischen Rat bestimmt. Das Parlament ist insofern beteiligt, als der Ratsentscheidung zustimmen muß und per Mißtrauensvotum mit absoluter Mehrheit die Auflösung der Kommission verlangen kann.
Wesentlich dringlicher als Probleme der Bestellung und Kontrolle der europäischen Exekutive ist die Frage ihrer Zusammensetzung. Hierzu enthält das Konzept Fischers keine konkreten Vorschläge. Auch der unlängst von Gerhard Schröder geäußerte Vorschlag, jeden Mitgliedstaat unabhängig von seiner Größe mit einem Kommissar zu repräsentieren, erscheint wenig sinnvoll. Eine aus 30 Kommissaren mit zugehörigen Generaldirektionen bestehende europäische Regierung würde eine unnötige Aufblähung der europäischen Bürokratie implizieren. Will man die Ziele einer schlanken und effizienten und gleichzeitig repräsentativ zusammengesetzten europäischen Exekutive in einer erweiterten Europäischen Union verwirklichen, bieten sich eine andere Lösung an. Man kann den Spielraum für die nationale Repräsentation dadurch erhöhen, daß neben maximal 20 Kommissaren auch die jeweiligen Generaldirektoren (ähnlich den deutschen Staatssekretären) in die Verfügungsmasse politisch zu verteilender Positionen aufgenommen werden. Da die Erweiterung ja Schritt für Schritt vor sich gehen wird, wäre ein allmählicher Übergang von beamteten zu politischen Generaldirektoren möglich.
Ein gewählter Präsident der Europäischen Union
Die Position des Präsidenten der Europäischen Kommission ist weitgehend der eines nationalen Regierungschefs vergleichbar, sieht man davon ab, daß er im Gegensatz zum britischen Premierminister oder dem deutschen Bundeskanzler bestenfalls informell die Zusammensetzung seiner Regierung beeinflussen kann. Er ist als primus inter pares hauptsächlich mit exekutiven Aufgaben betraut. Für rein repräsentative Funktionen, wie sie etwa vom deutschen Bundespräsidenten wahrgenommen werden, sieht das gegenwärtige europäische Institutionengefüge hingegen kein gesondertes politisches Amt vor. Im Hinblick auf eine institutionelle Reform wäre die Einrichtung eines solchen Amtes eines Europäischen Präsidenten durchaus sinnvoll. Dem Europäischen Präsidenten käme primär eine symbolische Integrationsfunktion zu. Er würde die Union nach außen repräsentieren und könnte eine wichtige politische Rolle als interner Schlichter und Vermittler zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten oder zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen spielen.
Hieraus ergäbe sich nicht nur zusätzliche politische Schubkraft für den Integrationsprozeß in einem erweiterten Europa. Mit der Einrichtung eines solchen Amtes könnte auf lange Sicht überdies ein wichtiger positiver Nebeneffekt verbunden sein, wenn politische Anreize entsprechend gesetzt werden: die Herausbildung eines europäischen Parteiensystems. Entscheidend hierfür wäre zunächst, daß der Europäische Präsident durch das Europäische Parlament gewählt wird. Während ein solches Vorgehen bei der Bestellung der Kommission angesichts eines fehlenden Parteiensystems aus mitgliedstaatlicher Perspektive kaum akzeptabel erscheint, könnte es bei der Bestimmung eines primär mit repräsentativen und keinerlei exekutiven Funktionen ausgestatteten Amtes gerade als Hebel dienen, um einen europäischen Parteienwettbewerb in Gang zu setzen. So entstünden Anreize für die Herausbildung europaweit agierender Parteien (etwa aus den derzeitigen Fraktionen im Europäischen Parlament), die sich auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten für das Präsidentenamt verständigen müßten. Europawahlen wären damit nicht mehr durch den Wettstreit nationaler Parteien bestimmt, sondern durch den Wahlkampf europäischer Parteizusammenschlüsse.
Die Ausbildung eines funktionsfähigen europäischen Parteiensystems ist nicht von heute auf morgen zu erwarten. Sie ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der europäischen Integration. Die demokratischen Legitimationsdefizite, an denen die Europäische Union zweifelsohne krankt, lassen sich letztlich nur reduzieren, wenn funktionsfähige Institutionen zur Aggregation, Artikulation und Integration politischer Interessen vorhanden sind. So ist es auf lange Sicht durchaus denkbar, auch die Kommission aus dem Parlament hervorgehen zu lassen. Ein europäisches Parteiensystem ist entscheidende Voraussetzung für die Demokratisierung der Union. Seine Entwicklung zu befördern, müßte daher ein zentrales Anliegen einer Reform des derzeitigen Institutionengefüges sein.